Eine syrische Familie zu Mittag

aus dem Italienischen übersetzt von Claudia Martelli

22 November 2014

Eben habe ich die zweite Spülmaschine ausgeräumt. Ja, heute haben wir gegessen, getrunken, erzählt. Wir waren 9 Personen, eine syrische Familie mit 2 Kindern, die Dolmetscherin, eine junge Frau mit Kurdisch als Muttersprache und einer 4 jährigen Tochter, die mit meinem Sohn zusammen in den Kindergarten geht (das haben wir heute herausgefunden), und wir 3.

Ich habe wieder damit begonnen, all denjenigen ehrenamtlich zu helfen, die aus dem eigenen Land vertrieben wurden, insbesondere Syrer. Nach 6 Monaten Pause widme ich mich wieder diesen Menschen, weil hier in Hamburg bis Jahresende 20.000 neue Flüchtlinge erwartet werden, von denen 1.000 hier in Wilhelmsburg, unserem Viertel, wohnen sollen. Als ich am ersten Tag eine Arbeitsschicht in einem der drei Camps übernommen habe, habe ich darum gebeten, eine Familie zum Essen einzuladen, am besten mit kleinen Kindern, und Ipek, die Dolmetscherin und Volontärin, die heute mitgekommen ist, hat mir unsere heutigen Gäste vorgestellt.

Einen 18 Monate alten Jungen, ein 3 jähriges Mädchen, Mutter 22 und Vater 27 Jahre.

Als sie in die Wohnung getreten sind, hat sie einfach ihr Kopftuch abgenommen, und als ich später für ein Foto meine Haare gelöst habe, tat sie es auch: Wunderschön und sehr, sehr lang.

Drei Worte

Gutes Benehmen,  Dankbarkeit und Würde. Unendlich.

Die Sätze

„Wir haben noch nie am Tisch gegessen, das gehört nicht zu unserer Kultur.“

„Für gewöhnlich benutzen wir zum Essen nur den Löffel und die Hände, wir verwenden keine Gabeln und Messer, entschuldigt uns, wenn wir etwas falsch machen.“

„Wir trinken Cola nur zu ganz besonderen Anlässen.“

Eine andere Kultur

Essen ist Kultur, Rezepte erzählen wer wir sind und überliefern etwas von uns, von Generation zu Generation und Tischrituale in verschiedenen Gegenden der Welt beschreiben ein Volk in seinem Alltag.

Sie sagten, dass es für sie natürlich ist, beim Essen im Kreis auf dem Boden zu sitzen und die Speisen mit der Hand oder dem Brot zu nehmen. Für die Syrer gibt es ein bestimmtes Ritual, bei dem die einzelnen Happen nach islamischen Brauch mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger genommen werden und man darauf achtet, die richtige Portion zu nehmen und einen kleinen Rest in der Schüssel zu belassen, als Zeichen des Respekts für den Gastgeber.

Die Mahlzeiten sind generell eine Familienangelegenheit, man verteilt Speisen und menschliche Wärme und verwandelt diese in etwas, was mehr ist als die bloße Notwendigkeit, sich zu ernähren. Das Essen ist eine große Veranstaltung, die auch mehrere Stunden andauern kann.

Nach jedem Satz, der ein kleines Unbehagen andeuten könnte, sagte ich, dass sie sich wie zuhause fühlen sollten, denn das ist für meinen Mann und mich das wichtigste. Und dass Cola auch bei uns nur zu besonderen Anlässen gekauft wird, und dieser war besonders. Nach vielen Monaten der Hilfe für Syrien, jetzt vier Menschen aus diesem Land im Haus zu haben und mit ihnen das Essen zu teilen, war für uns mit Sicherheit ein besonderer Anlass.

Das von mir zubereitete Menu umfasste etwas arabisches, etwas deutsches und etwas italienisches:

cibo

Blätterteigsterne mit Linsen-Rosinen-Parmesanfüllung

Eingelegte Gurken und Oliven

Maccheroni mit Tomatensauce

Kartoffelsalat

Taboulé

Falafel

Tsatsiki

Brezel

Bananenbrot

Schokotorte

Wir haben gegessen, die Speisen kommentiert; die gekauften Falafel sind etwas scharf für Deutsche, Italiener und Syrer und wir haben alle darüber gelacht. Wir haben einen Wettbewerb für die sauberste Aussprache vom  „r“ in „Bulgur“ gestartet, und Stephan hat uns alle zum Lachen gebracht.

Zum Schluß, mit Kaffesatz in den Tassen und einigen Kuchenkrümeln auf der Tischdecke, haben sie begonnen, ihre Geschichte zu erzählen.

Der Exodus

Sie haben nie unter den Bomben gelebt, weil der Krieg sich am Anfang nur langsam ausbreitete und sie immer 40-50 Km außerhalb des Zentrums waren. Bis sie 2012 beschlossen, in den Irak wegzuziehen. Das Mädchen war noch sehr klein, sie liefen 9 Stunden im Regen, der Schlamm reichte ihnen bis an die Knie, barfuß, weil es unmöglich war, Schuhe oder Stiefel zu tragen: Sie blieben bei jedem Schritt im Schlamm stecken.

Glücklicherweise wartete an der Grenze die kurdische Polizei auf sie. Und die Gefahr, in Gestalt von „Kalifat“ und Extremistengruppen, hatte die Verbindung zwischen der kurdischen, syrischen und irakischen Bevölkerung gekräftigt. Sie wurden zu einem Camp geführt, wo sie die folgenden 2 Jahre verbringen sollten. Dieses Camp war durch das Wirken der autonomen Region Kurdistan und internationaler Organisationen gut strukturiert und ruhig. An der staubigen Hauptstraße entlang waren einige der Zelte in kleine Läden umgewandelt worden. Gewänder und bunte Schals, einige Spielzeuge. Im Kurdistan erlaubte die Regierung den syrischen Flüchtlingen, die Camps zu verlassen, um Arbeit zu suchen. Viele fanden sie in den nahen Dörfern und kamen erst abends zum Camp zurück, wie K. Er fand Arbeit, kaufte Gold, ein Auto und sparte etwas. Aber dann im Frühjahr 3 Km vom Camp entfernt, machte sich die Isis bemerkbar. Da verkauften sie alles und flüchteten wieder, dieses Mal, um Europa zu erreichen.

Sie durchquerten die Türkei in den berüchtigten illegalen Taxis bis zur bulgarischen Grenze. Die Infrarotkameras, die in der Nähe der Grenzen zwischen Bulgarien, Griechenland und Türkei aufgestellt sind, sind so leistungsstark, dass sie die Kaninchen entdecken, die in der Nacht auf den Feldern hoppeln. Aber man muss dazu sagen, dass 2007 Bulgarien und Rumänien in die EU aufgenommen wurden, trotz einiger ungeklärter Probleme wie das organisierte Verbrechen, die Korruption, das unwirksame Rechtssystem; somit waren die östlichen Grenzen noch durchlässig dank der bestechlichen Zollbeamten.

Um die Probleme zu lösen, ist eine illegale Antieinwanderungs-Maßnahme entstanden: Ein Hindernis besteht an der Grenze zwischen Bulgarien und Türkei. Dreißig Kilometer Stacheldraht, die für die Obrigkeit in Sofia eine Abschreckung darstellen sollen, um die Flut an illegalen Einwanderern einzudämmen, die hauptsächlich aus Syrien kommen.

Man muss betonen, dass diese Maßnahme von den Menschenrechtsorganisationen und der Uno kritisiert wurde. K. und seine Frau mit den zwei Kindern konnten nach Bulgarien kommen, indem sie diesen Stacheldrahtzaun überwanden. Die junge Frau hatte den einjährigen Kleinen im Tuch vor der Brust und blieb am Draht hängen, sie riss sich die Hände, das Gesicht und die Waden auf. Alle außer ihr hatten es geschafft, sich zu befreien. So kamen fünf Männer zurück, und  zusammen versuchten sie, die Barriere zu öffnen, um sie durchzulassen. Einige ihrer Kleidungsstücke sind dort geblieben, am Stacheldrahtzaun. Nach dieser Erzählung hat der Ehemann auch gewitzelt, dass sie nach und nach, zuerst die Stiefel im Schlamm, dann die Kleider im Stacheldraht, ihre Teile zurückgelassen hat.

 In Bulgarien haben sie die Hölle vorgefunden. Flöhe in den Laken und überall riesige Läuse im Flüchtlingscamp. Sie konnten nun nicht weiter, bis sie endlich die erforderlichen Papiere von der bulgarischen Obrigkeit bekamen und nach Deutschland starten konnten. Jetzt warten sie noch auf die Zertifizierung für politisches Asyl. Und Deutschland unterzeichnet für ein ja für ALLE syrischen Flüchtlinge.

Dann sind wir auf den Balkon hinausgegangen, um zu rauchen. Sie haben sich umgeschaut, das Grün, die neuen Gebäude. Sie fragten uns, ob die Wohnungen gemietet oder gekauft seien, ich antwortete „beides, und wir haben gekauft“. Dann haben sie uns nach dem Preis gefragt, haben sich angeschaut, kurz nachgerechnet und gesagt, dass man in der Nähe von Damaskus für den Preis 11 Wohnungen kaufen könnte, die auch noch 50% größer wären. Als wir wieder hinein wollten, wollte der Kleine sich nicht vom Bobby Car trennen und weinte. Also ging ich zu Danny Boy und sagte zu ihm, vielleicht bringt dir der Weihnachtsmann ein Fahrrad mit Pedalen, und er hätte schon ein Laufrad und vielleicht könnte er sein Bobby Car, das ja für die Kleinen ist, Omar schenken. Diese Verhandlung hatten weder sie noch die Dolmetscherin bemerkt. Dann ging ich zu K. und sagte: „mein Sohn möchte Omar sein Bobby Car schenken“. Er ist zu Daniel gegangen und hat ihn geküsst.

Hamburg gefällt ihnen, sie würden gerne bleiben, es ist eine Stadt voller Leben, sagten sie.

Er ist Baumonteur für Gipskarton und sie Friseurin, sie träumen davon, mit einem neuen Leben zu starten. Oder mit dem Leben überhaupt, mit 22 und 27 Jahren geht es erst richtig los. Trotz allen Ärgers, der Leiden, der Mühe, in seinen Augen war ein Licht. In den Worten klang Begeisterung, etwas vibrierte. Die Energie vielleicht, ja, die Energie der Zwanzigjährigen. Etwas, was mich glauben lässt, dass in wir in ein paar Jahren wieder hier beim Essen zusammensitzen und uns an den Oktober erinnern werden, als sie nach Hamburg kamen.

Inschallah.